„Der schlimmste Tag meines Lebens begann mitten in der Nacht.
Der 9. November 1938.
Männer schrien, an der Tür polterte es, Fensterscheiben zersplitterten. Es war stockdunkel, und ich wusste nicht, wie mir geschah, da hatten sie schon die Tür mit einer Axt eingeschlagen und standen in unserer Wohnung, sie stießen uns, prügelten auf uns ein, warfen Möbel um und Geschirr zu Bruch.
(…)
Sie trieben meine Mutter, meinen Vater und mich aus dem Haus.
(…)
Sie trieben uns durch die Straßen. Wir wurden immer mehr in diesem Zug. Alte, Männer, Frauen, Kinder, die sich an die Kleider ihrer Mütter klammerten, Babys, die in den Armen ihrer Mütter schrien.
(…)
Sie trieben uns aus allen Richtungen durch die Straßen.
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Wir, die wir auf der anderen Seite der Stadt zusammengetrieben wurden wie mittwochs die Tiere auf dem Viehmarkt, bekamen nicht mit, dass die Synagoge brannte.
(…)
Bürgermeister Drescher persönlich hatte die Aktion organisiert (…).
(...)
(…) selbst mit einer Fackel die Vorhänge vorm Toraschrein in Brand gesetzt (…).
(…)
Die Feuerwehr wurde erst spät gerufen, bald loderten die Flammen auf der Kuppel. Als der Brandmeister löschen wollte, hielt ihn der Bürgermeister zurück: ‚Hier wird nicht gelöscht! Das Ding muss weg!‘“
Dies sind Auszüge aus den Erinnerungen des Holocaust-Überlebenden Albrecht Weinberg aus Rhauderfehn an die Nacht vom 9. auf den 10. November 1938, in der die Jüdinnen*Juden Leers durch die Straßen getrieben wurden, still beobachtet oder beschimpft von Nachbar*innen und Anwohner*innen.
Sie sind Teil des Buches „Damit die Erinnerung nicht verblasst wie die Nummer auf meinem Arm“, geschrieben von Nicolas Büchse.
Heute, 87 Jahre später, hat der Antisemitismus, der Hass auf jüdisches Leben, nicht aufgehört.
Neonazis, sofern etwas an ihnen wirklich neu ist, treten wieder, teils weiterhin selbstbewusst auf. Sie markieren politische Feind*innen, haben wieder Einzug in die Parlamente erhalten und erfreuen sich großer Unterstützung.
Eine Partei, die sich als Alternative inszeniert, weist Vertreter*innen auf, die ähnlich, mitunter gleich sprechen, die hetzen und Menschen das Menschsein absprechen.
Der Nährboden antisemitischer und anderer gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit gedeiht, auch weil der Widerstand verhalten ist.
Über Parteigrenzen hinweg, selbst in politischen Spektren, die sich als offen darstellen und gegen Diskriminierung einsetzen wollen, finden sich antisemitische Verschwörungstheorien. Konservative begehen altbekannte Fehler und werden zu Steigbügelhalter*innen. Und dort hört es nicht auf.
Wir müssen zusammen dagegenstehen. Der Hass darf niemals siegen.
Der Hass wird niemals siegen!
In der Heisfelder Straße 44, dem einstigen Ort der Synagoge, von der bei Ausgrabungen noch Überreste gefunden wurden, erinnert heute nur ein grauer Gedenkstein an die Gräuel des 9./10. Novembers 1938.
Völlig pietätlos, wie so vielerorts, wurden auf den Trümmern des jüdischen Gotteshauses in den 1960er Jahren eine Tankstelle und eine Werkstatt errichtet. Dort, wo Albrecht Weinberg als einer der letzten seine Bar Mizwa feierte.
Das ungenutzte, verfallende Grundstück sollte, wie es sich Weinberg, inzwischen 100 Jahre alt, wünscht, ein Ort des Gedenkens werden.
Bisher gibt es keine Einigung der Stadt mit der Firma Wittrock aus dem emsländischen Rhede. Doch diese Einigung ist längst überfällig.
Wir hoffen, dass sich dieser Zustand alsbald ändert und das Grundstück durch eine Umgestaltung dazu beiträgt, Antisemitismus und andere gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit zurückzudrängen.
WIR GEDENKEN DER OPFER DER NOVEMBERPOGROME VON 1938.
